Dauerhafter Stress macht Körper und Psyche krank
Nicht jeder Mensch reagiert gleich empfindlich auf Stress. Bei andauernder Überlastung gibt es allerdings Warnsignale, die jeder beachten sollte.
Susanne Amrhein, PRIMO MEDICO
Stress hat heutzutage fast jeder: Im Beruf, bei der Kindererziehung, in der Partnerschaft und häufig in mehreren Lebensbereichen gleichzeitig. Ob und wie sehr die Betroffenen darunter leiden, ist individuell ganz unterschiedlich, erklärt der Münchner Experte für Stressfolgeerkrankungen, Prof. Dr. Dr. Martin E. Keck: „Stress hat durchaus auch positive Eigenschaften: er stellt eine Herausforderung dar, mobilisiert Energie, aktiviert und wirkt belebend. Problematisch wird Stress erst in dem Moment, in dem er chronisch wird und die Belastung nicht mehr aufhört. Dann verliert unser Gehirn die Kontrolle über die Stresshormone“. Mögliche Folgen: psychische und körperliche Erkrankungen, die sich genau wie der Stress selbst nicht von heute auf morgen behandeln lassen. Die Therapie von Stressfolgeerkrankungen ist ein Schwerpunkt von Prof. Keck, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Neurologie am Max-Planck-Institut in München.
Welche Symptome löst dauerhafter Stress aus?
Die anhaltende Belastung führt bei Betroffenen häufig zu einer Serie von Symptomen, die allerdings schwer zuzuordnen sind. „Ein typisches Alarmzeichen ist, dass man plötzlich nicht mehr richtig abschalten kann, weder am Wochenende, noch im Urlaub“, erklärt Prof. Keck. „Außerdem stellen viele Stressgeplagte plötzlich fest, dass ihnen Dinge, die sie eigentlich gerne mögen, wie z.B. ihr Hobby oder Treffen mit Freunden, gar nicht mehr gefallen. Das Gefühl, man habe doch so viel zu tun oder müsse sich um so viele Angelegenheiten kümmern ist übermächtig und verhindert jegliche Entspannung. Nicht selten kommt es zu einem sozialen Rückzug“. Hinzu kommen weitere Symptome, die von den meisten Menschen jedoch nicht ernst genommen werden: Probleme beim Einschlafen oder Durchschlafen, viel zu frühes Aufwachen, Reizbarkeit, Gedächtnis- und Konzentrationsschwäche. „Leider ist es häufig so, dass die Betroffenen selbst ihren Wandel gar nicht wahrnehmen oder bewusst ignorieren“, sagt der Stressexperte. „Früher merken es dagegen Arbeitskollegen und Angehörige. Allerdings scheuen sich diese oft, die jeweiligen Personen anzusprechen“.
Chronischer Stress: Auswirkungen auf Körper und Psyche
Bleiben Stressfolgeerkrankungen unbehandelt, kann dies fatale Folgen haben. Dass die Betroffenen ungewohnte Reaktionen zeigen, ist nur die Spitze des Eisbergs. Nicht selten reagiert unsere Psyche auf dauerhaften Stress mit der Entwicklung von Depressionen oder Angsterkrankungen. Das Risiko eines Burn-Outs oder einer Erschöpfungsdepression nimmt ständig zu. Auch das Herz-Kreislauf-System reagiert mit Krankheiten auf eine Belastung durch Dauerstress, z.B. durch ein erhöhtes Risiko für Schlaganfälle oder Herzinfarkt. Selbst Altersdiabetes könne durch chronischen Stress entstehen, betont Prof. Keck.
Wie werden Stresserkrankungen behandelt?
„Nicht jeder, der unter Stress leidet, muss in Therapie“, beruhigt Prof. Keck. „Viele regeln ihre Problematik alleine. In unsere Klinik kommen vorwiegend Patienten, die so krank sind, dass sie es nicht alleine schaffen. Ein typisches Beispiel ist der Manager und Familienvater, der ein erfolgreiches StartUp Unternehmen in den Markt gebracht hat, rund um die Uhr arbeitet und erreichbar sein muss und dann in Kombination mit seinen anderen, täglichen Anforderungen plötzlich morgens nicht mehr aufstehen kann, weil er eine Erschöpfungsdepression entwickelt hat. Bei Patienten, die bereits lange unter Stress und ihren Folgen leiden, ist vor allem wichtig, bestehende Verhaltensmuster zu durchbrechen. Dazu müssen wir das neuronale Netzwerk überschreiben, wie bei einem fehlerhaften Computerprogramm“. Da die bisherigen Bewältigungs-Strategien des Gehirns nicht funktioniert haben, müssen die Betroffenen ihre Emotionsregulierung neu erlernen. Der Stress selbst lässt sich häufig nicht vermeiden, daher müssen die Patienten von Prof. Keck im Umgang mit den unvermeidlichen Belastungen neue Wege beschreiten und neue Erfahrungen machen. Je nach Schwere der Erkrankung werden auch medikamentöse Therapien angewandt, um ein Neuerlernen sinnvoller Verhaltensweisen überhaupt erst möglich zu machen. Von dem Motto „Einmal Therapie, immer Therapie“ hält Prof. Keck allerdings wenig: „Manche Patienten kommen ein einziges Mal zu mir zur Behandlung und dann nie wieder. In der Regel sind dann ja auch die persönlichen Schwachstellen bekannt und auch die Strategien die ihnen helfen, mit ihren Problemen anders umzugehen. Natürlich dauert nach langem Leiden auch die Therapie länger. Gerade bei einer Erschöpfungsdepression muss man dranbleiben und Hilfe anbieten. Jede Stunde gibt es bei uns in Deutschland einen Suizid, das spricht Bände. Ich habe auch Patienten, die nach erfolgreicher Behandlung dennoch einmal im Jahr zu mir in die Sprechstunde kommen, um ‚nachzujustieren’“.
Wie können Stressfolgeerkrankungen vermieden werden?
Es gibt verschiedene Faktoren im Leben, die wir ernst nehmen und beachten sollten, rät Prof. Keck: „Wir müssen lernen, uns an veränderte Lebensumstände anzupassen. Mit 40 arbeitet man anders als mit 20. Ein zweites Kind bringt andere Herausforderungen mit sich als das erste und auch eine zweite Ehe erlebt man anders als die erste. Ein weiteres Problem ist die heutzutage überall geforderte Multitasking-Fähigkeit. Dazu ist unser Gehirn aber leider nicht ausgelegt. Und auch wenn wir mit den neuen Medien heutzutage eine 24-Stunden-Erreichbarkeit gewährleisten können, ist dies für unseren Körper noch lange nicht zu bewältigen“. Stressexperte Keck rät, sich regelmäßig zu Pausen zu zwingen, egal ob es die Mittagspause im Berufsalltag ist oder eine längere Auszeit am Wochenende oder im Urlaub. Das Wort „Achtsamkeit“, das zur Zeit in aller Munde ist, habe durchaus seine Berechtigung: Wer es schafft, sich beim Zähneputzen nur auf diesen Vorgang zu konzentrieren, ohne im Bad herum zu laufen, oder beim Staubsaugen tatsächlich nur an die Reinigung des Teppichs zu denken und nicht den Einkauf später am Tag, habe schon viel gewonnen, so Prof. Keck. Einfache Tricks, wie beim Autofahren nicht zu telefonieren oder To-do-Listen anzulegen, um das nächtliche Grübeln zu stoppen, könnten helfen, das Stressgefühl zu reduzieren. „Wichtig ist, sich nicht an den Problemen abzuarbeiten, die man nicht ändern kann“, so der Stressspezialist. „Das führt nur zur Verzweiflung. Man sollte vielmehr an den Punkten ansetzen, die man persönlich beeinflussen kann und sich über kleine Erfolge freuen“. Ausreichend Schlaf und Ruhepausen, regelmäßige Bewegung und eine gesunde Ernährung seien weitere Bausteine für einen gesunden Umgang mit Stress.