Gesund essen, Krankheiten lindern
Ernährungsmedizin
Dass eine ausgewogene Ernährung uns gut tut, ist bekannt. Aber sie kann noch viel mehr: Eine Ernährungsumstellung kann sogar eine vollständige Heilung von Krankheiten wie Bluthochdruck, Neurodermitis, Gicht und Diabetes Typ 2 bewirken, bestätigt Dr. med. Matthias Riedl, bekannt als „Ernährungs-Doc“ aus dem NDR Fernsehen und Spezialist für Diabetologie und Ernährungsmedizin im medicum Hamburg.
Interview: Susanne Amrhein, PRIMO MEDICO
Was sind typische Krankheiten, bei denen durch eine Umstellung der Ernährungsgewohnheiten sogar eine Heilung erreicht werden kann?
Dr. Riedl: „Neben den eingangs bereits erwähnten gibt es noch eine lange Reihe von Krankheiten, die sich positiv durch eine Diät beeinflussen, heilen oder zumindest lindern lassen. Dazu zählen Nierenschwäche, Rheuma und Potenzstörungen genauso wie Migräne, Multiple Sklerose oder Arthrose. Viele Patienten kommen mit Magen-Darm-Beschwerden zu mir, z.B. mit Colitis ulcerosa oder Intoleranzen. Hier erreichen wir in den meisten Fällen eine Besserung. Die häufigste Diagnose ist das Reizdarmsyndrom. Eine Untersuchung beim Gastroenterologen bleibt oft ohne greifbares Ergebnis: Er kann nur feststellen, dass kein Tumor vorliegt und auch keine Entzündungsanzeichen gegeben sind. Insofern heißt es gegenüber den Patienten häufig mit einem Schulterzucken: ‚Damit müssen Sie leben’ – was nicht stimmt. Die andere große Gruppe meiner Patienten leidet unter Diabetes mellitus Typ 2, der sogenannten ‚Altersdiabetes’, die auch bei jüngeren Menschen auftreten kann. Anstatt ein Leben lang Insulin zu spritzen, kann eine Umstellung der Ernährung den Diabetes verschwinden lassen. Dazu reicht es natürlich nicht, einem Patienten ein Formblatt mit allgemeinen Ernährungstipps in die Hand zu drücken. Aber ein individueller Therapieplan, sozusagen ein Maßanzug der Ernährungsmedizin, kann gerade bei Diabetes wahre Wunder bewirken.“
Warum wird dann bei Diabetes nach wie vor gespritzt, statt eine Heilung anzustreben?
Dr. Riedl: „ Das ist die große Frage. Wir haben meiner Meinung nach einen handfesten Insulinskandal in Deutschland. Bei 86 Prozent der Diabetes-Patienten besteht eine Chance auf Heilung. Stattdessen wird bei uns in Deutschland zwei Mal so viel Insulin pro Kopf verschrieben wie in Österreich. Und das trotz des Wissens, dass zu hohe Insulindosen dem Körper schaden. Sie fördern Übergewicht und können kardiovaskuläre Schäden verursachen. Daher müssen wir dringend den Grundansatz ändern, nämlich die Diabetes-Ursache behandeln, also z.B. das Übergewicht. Und das erfordert mitnichten eine qualvolle Hungerkur, die ja meist nur zum berühmten JoJo-Effekt führt, sondern in vielen Fällen lediglich eine Umstellung der Ernährungsgewohnheiten. Diesem Thema widme ich mich in meinem Ratgeber ‚Abnehmen nach dem 20:80-Prinzip’. Es geht darum, jeweils nur zwanzig Prozent seiner Ernährung umzustellen, um einen Erfolg zu erzielen. Und das ist für jeden umsetzbar, ganz ohne Hungern und ohne Quälerei. Entscheidend ist die Art und Weise der Ernährungsumstellung.“
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Eine ernährungsmedizinische Beratung wird von vielen Ärzten nebenbei angeboten – warum wird dieses Fachgebiet so stiefkindlich behandelt?
Dr. Riedl: „Das ist in der Tat ein Problem. Es gibt in Deutschland nur wenige praktisch tätige Ernährungsmediziner. Dafür gibt es aber viele Anbieter, die einen Kompaktkurs absolviert haben, in dem aber überwiegend theoretische Inhalte vermittelt wurden. Die Absolventen können sich anschließend zwar Ernährungsmediziner nennen, sind nach so einem Theorie-Kurs aber nicht in der Lage, vernünftig zu behandeln. Zur Zeit sind wir leider noch ein sehr junges Fachgebiet, das dadurch auch entsprechend stiefkindlich behandelt wird. Wer einen erfahrenen und anerkannten Ernährungsmediziner sucht, findet im Internet eine Liste auf der Seite des Bundesverbands Deutscher Ernährungsmediziner (BDEM).“
Wie passt es da zusammen, dass Sie als einer der NDR-Ernährungs-Docs so großen Zulauf haben?
Dr. Riedl: „Es gibt viele Menschen, die begriffen haben, dass unsere Ernährungsgewohnheiten ein Problem für unsere Gesundheit darstellen. Wir selbst versuchen seit zwanzig Jahren, darauf hinzuweisen. Die Ernährungs-Docs und ihre Öffentlichkeitswirkung haben hier sehr geholfen, weil wir zeigen können, dass es kranke Menschen gibt, die mit Hilfe einer Ernährungsumstellung wieder gesund geworden sind. Man muss sich natürlich im Klaren darüber sein, dass dies kein Prozess ist, der von heute auf morgen stattfindet. Eine Krankheit, die sich über Jahrzehnte manifestiert hat, bedarf einer langfristigen und sehr individuell geplanten Umkehr. Daher ist es auch so wichtig, einen renommierten Ernährungsmediziner aufzusuchen, am besten in einer Praxis, die eng mit anderen Fachbereichen zusammenarbeitet, wie wir im medicum Hamburg. Genau wie man sprichwörtlich sagt, es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen, braucht es in den meisten Fällen auch mehrere Fachbereiche, um eine Krankheit nachhaltig zu heilen. Daher kooperieren wir u.a. mit Psychologen und Sportpädagogen und immer ist eine erfahrene Ernährungstherapeutin involviert.“
In welchen Lebensbereichen sollte die Ernährungsmedizin Ihrer Meinung nach deutlich an Einfluss gewinnen?
Dr.Riedl: „Wenn wir ganz am Anfang ansetzen wollen, wäre das bei der Beratung von schwangeren Frauen oder auch Frauen, die erst noch schwanger werden möchten. Die Ernährungsmedizin kann bei dem werdenden Leben die Entwicklung der Gesundheit und Intelligenz fördern und gleichzeitig die Anlagen zu Diabetes, Übergewicht und auch Allergien verhindern. Nach der Geburt sollte neben einer Stillberatung ebenfalls eine Ernährungsberatung erfolgen, damit das Kind während seiner ersten drei Lebensjahre auf gesunde Lebensmittel geprägt wird. Wer als kleines Kind mit Süßigkeiten getröstet wurde, wird diesen Effekt meist sein Leben lang nicht los. Auch bei rheumatischen Erkrankungen kann eine Ernährungstherapie den Krankheitsverlauf deutlich abmildern, bei einer Fettleber sogar zur Abheilung führen. Trotzdem spielt sie in der Regel immer noch keine Rolle. Das gleiche gilt für Patienten mit Arterienverkalkung oder mit Risiko für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall. Krebspatienten sollten sofort nach der Diagnose eines Tumors eine Ernährungsberatung erhalten, weil nach wie vor dreißig Prozent der Krebskranken schlichtweg verhungern. Leider gibt es in Bezug auf die Ernährungsmedizin eine eklatante Unterversorgung in allen medizinischen Bereichen.“
Die Ernährungsmedizin bringt leider auch immer wieder Scharlatane und fragwürdige Trends hervor – wie beurteilen Sie Superfoods, Vitaminwasser und Co?
Dr. Riedl: „In der Lebensmittelbranche wird aus Gründen der Geschäftemacherei leider jedes Jahr ein neues Schwein durchs Dorf getrieben. Das ist insofern schade, weil zwei Drittel der Menschen sowieso schon unsicher ist, was in Bezug auf ihre Ernährung richtig und was falsch ist. Gleichzeitig fördern die Lebensmittelproduzenten eine fast religiös anmutende Frontenbildung in Veganer, Fleischliebhaber oder Trennkostanhänger. Ein gutes Beispiel der jüngsten Zeit ist ‚Beyond Meat’, ein amerikanischer Nahrungsmittelproduzent, dessen vegane Fleischersatzprodukte derzeit gehypt werden. Wer glaubt, er tut sich etwas Gutes mit dieser angepriesenen Fleischalternative, irrt: Es handelt sich um prozessierte Nahrung. Und wenn man weiß, dass jedes Jahr 11 Millionen Menschen allein dadurch sterben, dass sie zu viel prozessierte Nahrungsmittel konsumiert haben, sieht man dieses Trendfood in einem ganz anderen Licht.“
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