Wirbelsäulen-Operationen: Wie gut helfen sie?
Degenerative Wirbelsäulenerkrankungen
Dank moderner Verfahren lassen sich heutzutage fast alle Probleme der Wirbelsäule operieren. Allerdings sollten Nutzen und Risiken für jeden Patienten individuell beurteilt werden, erklärt PD Dr. med. Christian T. Ulrich, Spezialist für Wirbelsäulenchirurgie und Inhaber der Praxis für Neurochirurgie im Lindenhofspital in Bern.
Interview: Susanne Amrhein, PRIMO MEDICO
Was sind die Ursachen für Verschleißerkrankungen der Wirbelsäule?
Dr. Ulrich: „Die Wirbelsäule ist ein stark beanspruchtes Element unseres Bewegungsapparats. Degenerative Prozesse beginnen bereits im jungen Erwachsenenalter. Die Bandscheiben beispielsweise trocknen langsam aus und verlieren ihre Elastizität. Es entstehen Veränderungen an den kleinen Wirbelgelenken und den Wirbelkörpern und im Zuge dessen kann es zu Einengungen der Nerven kommen. Diese Veränderungen nehmen mit steigendem Lebensalter zu. Verstärkt werden sie durch persönliche Lebensumstände wie schwere körperliche Arbeit, wenig Bewegung und monotone Positionen bei der Arbeit, ungesunde Ernährung oder Rauchen. Aber auch die vererbte Prädisposition spielt eine Rolle. Wichtig ist mir zu erwähnen, dass nicht jeder Verschleiß der Wirbelsäule, der sich im Rahmen einer Bildgebung zeigt, tatsächlich behandlungsbedürftig ist. Nicht jede degenerative Wirbelsäulenveränderung verursacht automatisch Beschwerden.“
Es gibt immer wieder die Kritik, dass viele Wirbelsäulen-OPs vermieden werden könnten – stimmen Sie dem zu?
Dr. Ulrich: „Für mich sind eine gute Physio- und Bewegungstherapie sowie ausgewogener Sport elementar für die Basisbehandlung vieler Rückenleiden. Eine Rückenschule mit Anleitung zur Rückenergonomie und kräftigende Übungen der stützenden Muskulatur sind dabei entscheidende Faktoren. Durch eine patientenspezifische Anleitung und kompetente Therapie können bei motiviertem Patienten in der Tat Operationen oftmals hinausgezögert oder auch vermieden werden. Das erlebe ich in meiner Praxis immer wieder.“
Was spricht für eine Operation der Wirbelsäule?
Dr. Ulrich: „Es gibt degenerative Abnutzungserscheinungen, die nicht nur mit Schmerzen, sondern auch mit neurologischen Ausfällen einhergehen. Dies können hochgradige Lähmungen in Armen oder Beinen sein oder wie beim Cauda-Syndrom Gefühlsminderungen im Bereich der Innenschenkel, des Gesäßes, Genitalbereichs und Probleme bei der Entleerung der Harnblase. Dies sind absolute OP-Notwendigkeiten mit dringendem Handlungsbedarf. Auch bei Tumoren oder Infektionen der Wirbelsäule sind das rasche Abstimmen eines Behandlungsplans zwischen den Fachdisziplinen und eine zügige OP-Entscheidung notwendig. Eine relative OP-Notwendigkeit besteht dann, wenn sich Schmerzen und Leidensdruck durch eine gute konservative Behandlung nicht ausreichend bessern lassen. Das ist der häufigste Grund für Operationen an der Wirbelsäule. Es geht dann darum, Lebensqualität für den Patienten zurückzugewinnen. Technisch ist heutzutage vieles machbar. Allerdings können mit solchen Operationen nicht die jugendliche Gesundheit und eine komplette Beschwerdefreiheit zurückgewonnen werden, wohl aber eine relevante Linderung für den Patienten erzielt werden. Jede anstehende Wirbelsäulen-OP sollte einer genauen und individuellen Risiko-Nutzen-Abwägung unterzogen werden.“
Können degenerative Wirbelsäulenerkrankungen minimal-invasiv operiert werden?
Dr. Ulrich: „Das Schlagwort ‚minimal-invasiv‘ fällt sehr häufig, ist aber nicht einheitlich definiert. Ich versuche grundsätzlich, den kleinsten, schonendsten Zugang zu wählen, der möglich ist, dabei aber die ausreichende Anatomie zu sehen, um die Pathologie sicher behandeln zu können - so klein wie möglich, so groß wie nötig. Bandscheibenvorfälle zum Beispiel lassen sich in der Regel gut über kleine Schnitte mit der sogenannten ‚Schlüsselloch-Chirurgie‘ operieren. Über einen 2 bis 4 cm großen Schnitt wird unter dem Operationsmikroskop die Anatomie vergrößert dargestellt. Die Nervenstrukturen können so viel schonender als mit dem bloßen Auge operiert werden. Diese mikrochirurgische Technik ist heutzutage der Standard in der Wirbelsäulenchirurgie. Zum Teil kommen auch tubuläre Zugänge in Frage, bei denen über ein wenige Millimeter dünnes Rohr operiert wird. Der Vorteil ist ein minimaler Zugang mit guter, aber sehr fokussierter Sicht auf die Anatomie. Technisch kann dies anspruchsvoll sein. Das trifft auch auf die Endoskopie zu, mit der man auch schonend und minimal-invasiv an der Wirbelsäule operieren kann. Komplexere Erkrankungen, wie Deformitäten oder Instabilitäten, erfordern größere Operationen an der Wirbelsäule mit Stabilisation. Dabei werden Segmente der Wirbelsäule mit Schrauben und Stäben fixiert – die sogenannte „Versteifung“. Die Implantate können über kleine Hautschnitte (perkutan) in die Wirbelsäule, also minimal-invasiv, eingebracht werden. Dies wird aber auch über offene Zugänge mit größerer Freilegung der Anatomie gemacht. Dies bietet aber auch Vorteile: zusätzlich zum einfacheren Einbringen der Implantate können die Nerven unter guter Sicht freigelegt und für eine gute knöcherne Abheilung der Stabilisation, die sogenannte Fusion, gesorgt werden. Das alles aber immer unter dem Operationsmikroskop. Ob die Operation mit kleinsten Schnitten oder doch offen durchzuführen ist, muss von der zu operierenden Erkrankung durch den Operateur festgelegt werden. Grundsätzlich sollten degenerative Wirbelsäulenerkrankungen mit einem minimal-invasiven Gedanken operiert werden.“
Häufig liegen im Bereich der Wirbelsäule mehrere Erkrankungen vor – können diese während eines Eingriffs behandelt werden oder sind mehrere OPs erforderlich?
Dr. Ulrich: „Das ist eine schwierige Frage, da hierdurch die Komplexität der Wirbelsäulenchirurgie deutlich wird. Grundsätzlich lässt sich die Frage aber mit „ja“ beantworten. Ich möchte aber noch genauer antworten. Die wichtigste – aber manchmal zugleich auch schwierigste – Frage ist: welche Erkrankungen der Wirbelsäule für die Beschwerden des Patienten verantwortlich sind. Häufig zeigt die diagnostische Bildgebung gleich mehrere potenzielle ‚Baustellen‘. Es geht aber nicht darum, „die Motorhaube aufzumachen und eine Generalüberholung“ durchzuführen, sondern das Hauptproblem des Patienten fokussiert zu beheben.
Es gibt aber auch die Situation, in der eine Erkrankung der Wirbelsäule vorliegt, diese aber mit mehreren Operationen behoben werden muss. Dies kann bei einer Deformität wie zum Beispiel der sagittalen Dysbalance notwendig sein. Es geht darum, den weit nach vorne verschobenen Körperschwerpunkt zurück zu verlagern und die Wirbelsäule wieder in ein günstiges Lot zu bringen. Um dies zu erreichen, muss man die Wirbelsäule häufig in mehreren Schritten von hinten, vorne und der Seite (360-Grad-Zugang) korrigieren. Das sind aufwendige, komplizierte und auch komplikationsträchtige Operationen, die man individuell nach Bedürfnissen des Patienten plant.
Es ist immer wieder eine Herausforderung und braucht viel Erfahrung eines Wirbelsäulenchirurgen, dem Patienten einerseits die richtige Operationstechnik anzubieten, die die Beschwerden am besten behebt, aber andererseits nicht zu invasiv und komplikationsträchtig ist. Meiner Erfahrung nach sollte daher mit der kleinstmöglich vertretbaren Operationstechnik begonnen werden, die das Problem lösen kann. Kommt dieses wieder, sollte erst dann die nächst größere Operationstechnik angewandt werden. Es geht darum, eine Über- oder Unterversorgung zu vermeiden. Wichtig zu wissen ist, dass weder die kleine noch die große Operation eine endgültige und definitive Lösung des Problems ist. Revisionsoperationen können immer wieder vorkommen. Das macht die eingangs erwähnte Komplexität der Wirbelsäulenchirurgie aus.“
Welche Komplikationen sind möglich – sind Wirbelsäulen-OPs zu Recht so gefürchtet?
Dr. Ulrich: „Die größte Angst vor Wirbelsäuleneingriffen, so erfahre ich es immer wieder in meinem Alltag, ist anschließend im Rollstuhl zu sitzen. Allerdings ist dieses Extrem eine absolute Rarität. Aus dieser Angst heraus ertragen Betroffene nicht selten jahrelang starke Schmerzen, weil sie sich nicht trauen, eine Operation durchführen zu lassen. Eine Wirbelsäulen-OP darf man grundsätzlich nicht auf die leichte Schulter nehmen. Risiko und Nutzen müssen immer in einem günstigen Verhältnis stehen. Der Erfolg einer Operation setzt sich im Wesentlichen aus zwei Faktoren zusammen: zum einen die richtige Indikation zu stellen und zum anderen die Operation technisch einwandfrei durchzuführen. Tritt der erwünschte Erfolg der Operation nicht ein, liegt das womöglich an einer Fehlinterpretation der Bildgebung und der Beschwerden vor der Operation. Dies kann meiner Ansicht nach verhindert werden, in dem man den Patienten vorher gut kennenlernt, seine Beschwerden sorgfältig abklärt und bei Unklarheiten spezielle Abklärungen einleitet. Die richtige Indikation zu stellen ist eine der anspruchsvollsten Herausforderungen in der Wirbelsäulenchirurgie.
Die technischen Komplikationen einer Operation, wie Verletzung des umliegenden Gewebes oder Implantatversagen, wie etwa gelockerte Schrauben, sind meist behandelbar und damit beherrschbar. Sie erfordern eventuell ein oder mehrere zusätzliche Eingriffe.
Um die Sicherheit bei der Operation von degenerativen Wirbelsäulenerkrankungen zu erhöhen, setze ich seit langem auf die sogenannte Neuronavigation: Eine 3-D-Bildgebung während der OP, die eine große Genauigkeit ermöglicht. Gleichzeitig kann ich kontrollieren, ob verwendete Implantate korrekt sitzen, während der Patient oder die Patientin in Narkose liegt. Mit dieser Technik kann man potenzielle Fehllagen der Implantate so gut wie ausschließen.“
Wie stark sind die Schmerzen nach einer Wirbelsäulen-OP?
Dr. Ulrich: „Wir operieren ja, um den Patientinnen und Patienten ihre Schmerzen zu nehmen. Nach der Operation spüren das die allermeisten Patienten prompt. Hinzu kommen daher nur die Schmerzen, die durch die Operation selbst entstehen. Die meisten spüren lediglich einen „Druck“ im operierten Bereich der Wirbelsäule. Als Basis werden nach der Operation über einen festen Zeitraum verschiedene Schmerzmittel in Kombination gegeben. Somit kann man den Schmerz schon prophylaktisch gut behandeln. Wegen der möglichen Nebenwirkungen werden die Medikamente dann aber rasch reduziert. Auch während eines Eingriffs können wir lokale Betäubungsmittel oder auch Kortison in die Wunde geben. Damit kann der postoperative Schmerz auch reduziert werden. Für alle anderen Patienten mit erhöhtem Schmerzniveau oder speziellen Nebendiagnosen, die die Medikamentenanwendung erschweren, haben wir ein individuell angepasstes Konzept zur Schmerzbehandlung.“
Wie schnell sind die Patientinnen und Patienten nach einer Wirbelsäulen-OP wieder fit?
Dr. Ulrich: „Wir raten immer zu einer 6-wöchigen Schonfrist, für die wir auch eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstellen. Natürlich ist die Zeit, die zur Regeneration erforderlich ist, abhängig von der Größe des Eingriffs und von der beruflichen Tätigkeit der Patientin oder des Patienten. Aber: Die Mobilität ist nach einer Wirbelsäulen-OP sofort gewährleistet. Bereits am ersten Tag kommen unsere Patienten wieder auf die Beine und können sich unter Anleitung der Physiotherapie auch rasch wieder frei bewegen. Laufen, stehen und liegen sind in der Regel problemlos möglich. Ungünstiger ist anfangs eine sitzende Haltung.“
Wie erfolgreich ist die Chirurgie bei degenerativen Wirbelsäulenerkrankungen – vor allem in Bezug auf Schmerzfreiheit, Stabilität und den Rückgewinn von Lebensqualität?
Dr. Ulrich: „Passen die Beschwerden mit den Bildbefunden überein und ist der OP-Verlauf gut, erreichen wir in der Regel eine Verbesserung von 70 bis 90 Prozent. Man sollte sich hüten, falsche Versprechungen zu machen, aber in den meisten Fällen gelingt es, den Leidensdruck zu nehmen. Die Wirbelsäulenchirurgie ist ein Fachbereich, der sich in den vergangenen 20 Jahren technisch rasant entwickelt hat. So werden auch komplexe Operationen wie etwa zur Wiederherstellung der sagittalen Balance immer erfolgreicher durchgeführt. Das stetig weiterentwickelte Verständnis der Biomechanik, die 360°-Zugänge von hinten, vorne und der Seite sowie moderne Implantate bieten neue Möglichkeiten, Stabilität, Balance und Lebensqualität des Patienten zu erzielen. Das Risikoprofil ist entsprechend dem Umfang solcher Operationen natürlich höher. Bei guter Patientenwahl und richtig indiziert kann man aber gute Erfolge erzielen.“
Sollten sich Patientinnen und Patienten vor einer geplanten Operation an der Wirbelsäule eine Zweitmeinung einholen?
Dr. Ulrich: „Es bietet sich in jedem Fall an, eine zweite Meinung einzuholen. Eine Wirbelsäulen-OP ist ein Ereignis, das nicht wieder rückgängig gemacht werden kann. Daher kann es hilfreich sein, andere Sichtweisen oder alternative Lösungsvorschläge zu bedenken. Ideal ist natürlich, wenn die Beurteilungen übereinstimmen. Aber auch konträre Behandlungsansätze können dazu führen, dass die Patientin oder der Patient nach kritischem Hinterfragen oder auch aufgrund des eigenen ‚Bauchgefühls‘ eine Entscheidung trifft, hinter der sie oder er stehen kann. Auch wenn es manchmal Zeit und Nerven kostet, gibt das Einholen einer Zweitmeinung vor einer Wirbelsäulen-OP Sicherheit bei der Entscheidungsfindung.“
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